Messie-Syndrom
An dieser Stelle haben wir Maximilian Geisthardt (Dipl. Psych., Experte für das Messie-Syndrom) gebeten, einen Text zur Orientierung für Interessierte zum Messie-Syndrom zu schreiben.
In den 1980er Jahren entwickelte sich in den USA eine Selbsthilfebewegung von Menschen, die das Gefühl hatten, die Kontrolle über ihre Wohnräume verloren zu haben. Aus dieser Bewegung heraus entstand der Begriff „Messie“ (vom englischen Wort für Unordnung, „mess). Er fand auch in Deutschland Verbreitung. Während manche diesen Begriff als stigmatisierend ablehnen, wird er von anderen als Selbstbezeichnung gewählt.
In diesem Text soll der Begriff in seiner ursprünglichen, neutralen Bedeutung verwendet werden.
Dieser Text soll allen Interessierten eine Einführung in das Thema bieten. Im Mittelpunkt sollen jedoch die Fragen und Anliegen der Betroffenen stehen. Daher liegt sein Fokus auf Anschaulichkeit und Verständlichkeit, nicht auf einer möglichst genauen wissenschaftlichen Ausdrucksweise oder darauf, alle Aspekte vollständig zu erklären.
Eine gute Arbeitsdefinition des Messiesyndroms ist folgende:
Ein Messiesyndrom liegt vor, wenn Anzahl, Struktur und/oder Art von Gegenständen, die in den Wohnräumen gelagert werden, deren Nutzbarkeit erheblich einschränken, was Leidensdruck verursacht und/oder verhindert, das die Wohnung zur Deckung der Grundbedürfnisse genutzt werden kann.
Reboly und Vykoukal haben folgende Definition vorgelegt:
[Messies werden jene Menschen] genannt, die nicht Ordnung halten können, ihre Wohnung mit Dingen überfüllen, die ihren Lebensbereich drastisch einschränken, und die unter Umständen auch an der Organisation des Alltagslebens immer wieder scheitern.
Zitat aus Agdari-Moghadam, Pritz, Reboly & Vykoukal 2009, S.9
In Jahren der praktischen Arbeit mit Betroffenen hat es sich gezeigt, dass die Probleme der Betroffenen in Ihren Wohnräumen in folgende Kategorien eingeteilt werden können:
Entsorgungsprobleme - Es kommt zu wenig aus der Wohnung heraus.
Es gibt gute Gründe, sich nicht von Sachen zu trennen. Die meisten Menschen haben viel in ihrer Wohnung, was keinen Nutzen erfüllt, außer eben die Befriedigung, es zu haben. Zudem besitzt fast jeder etwas, das eine hohe emotionale Bedeutung hat. Beispielsweise das geliebte Kuscheltier aus der Kindheit, die Kinokarte vom ersten Date mit der ersten großen Liebe oder ein geheimes Tagebuch. Zum Problem wird dies, wenn das Festhalten an den Gegenständen erhebliche Nachteile mit sich bringt, etwa weil die Nutzbarkeit der Wohnung eingeschränkt wird.
Bei manchen Betroffenen löst der Gedanke in der Wohnung auszusortieren große Widerstände aus. Je mehr sie sich mit dem Gedanken der Entsorgung eines Gegenstands beschäftigen, desto wichtiger erscheint er ihnen. Je länger sie ihn in der Hand halten, desto mehr Erinnerungen verbinden sie damit. Oft entsteht hieraus auch die Angst, dass mit dem entsprechenden Gegenstand auch die Erinnerungen, die eigene Vergangenheit, oder gar die eigene Identität verloren gehen könnten. Die Objekte stehen so für Bindungen an Personen oder die Erinnerung an Ereignisse.
Andere berichten wiederum von keinem solchen Gefühl der Verbundenheit. Sie beschreiben stattdessen eine diffuse Angst, ein ungutes, mulmiges Gefühl, was umso stärker wird, je näher sie sich mit dem Gedanken der Entsorgung beschäftigen. Diese Angst kann mit dem Satz „ich könnte es bereuen, das weggeworfen zu haben, daher behalte ich das lieber“ umschrieben werden. Sie ist oft mit der Erinnerung daran verbunden, wie mal tatsächlich etwas weggeworfen wurde, was man dann später tatsächlich gebraucht wurde. Oft manifestiert sie sich an Dingen, die einmal wichtig waren, ihren Nutzen jedoch längst verloren haben. Etwa an schon vor Jahren bezahlten Rechnungen oder alten Schulunterlagen.
Manchmal basiert der Widerwille, sich von etwas zu trennen, auch auf vermeintlich praktischen Überlegungen. Hierbei ist zu unterscheiden, ob jemand etwas für ein ganz bestimmtes Vorhaben behalten will, oder ob es sich um eine abstrakte Vorstellung („für irgendwas wird das schon noch gut sein“, „das kann man immer gebrauchen“) handelt. Auch Schuldgefühle spielen, speziell im Kontext der Entsorgung eine große Rolle. So kann beispielsweise eine Zeitung nicht weggeworfen werden ehe sie nicht ganz durchgelesen ist, oder die Mülltrennung wird so gewissenhaft praktiziert, dass sie so zeitraubend ist, dass kaum noch etwas weggeworfen werden kann.
Anschaffungsprobleme - Es kommt zu viel in die Wohnung hinein.
Manche Betroffene erleben den Moment der Anschaffung, sei es beim Kaufen, Aufsammeln oder Finden, voller Freude und Lust. Andere haben detaillierte Pläne, für deren Erfüllung sie beispielsweise das nötige Werkzeug oder die nötigen Materialien sammeln, wobei die Anschaffung ihnen das Gefühl gibt, sich der Erfüllung der Pläne anzunähern. Das die Wohnung tatsächlich (zu) voll ist spielt in diesen Momenten meist keine Rolle. Dies wird von der Freude überlagert. Bei anderen Betroffen ist es wiederum so, dass sie einen inneren Drang verspüren bestimmte Arten von Gegenständen anzusammeln oder mitzunehmen. Dies kann sich beispielsweise in den Gedanken äußern, dass ein Möbelstück, welches auf der Straße ist, viel zu schade ist um dort stehen gelassen zu werden. Es würde dort sicher verkommen. Es wäre besser, es mitzunehmen und zu “retten”, auch wenn gerade keine Verwendung dafür besteht. Solche Gedanken und Handlungen werden von einigen als lustvoll, von anderen eher wie eine Verpflichtung erlebt. Schließlich gibt es auch Menschen, die durch die Anschaffung von bestimmten Gegenständen Ängste in Schach halten, beispielsweise indem im großen Umfang Lebensmittel für „schlechte Zeiten“ gebunkert werden.
Neben Problemen mit der Menge an in die Wohnräume geschaffen Gegenstände kann auch deren Art zu Problemen führen, beispielsweise wenn es sich um Objekte handelt, welche eigentlich besondere Lagerungsanforderungen haben, da sie etwa sperrig sind, leicht verderben oder chemisch ausdünsten.
Der Begriff „Anschaffungsproblem“ kann insofern täuschen, als dass die Betroffenen nicht notwendigerweise aktiv neue Gegenstände beschaffen. Auch durch Zeitungsabos, oder einfach dadurch, dass sich jemand den Ruf erarbeitet hat, Spenden dankbar anzunehmen, kann eine Wohnung auch (vermeintlich) passiv befüllt werden.
Organisationsprobleme - In der Wohnung kann keine Ordnung geschaffen werden.
Hierbei kann zwischen der mangelhaften Fähigkeit Ordnung herzustellen, und der mangelhaften Fähigkeit, Ordnung aufrechtzuerhalten, unterschieden werden.
Viele Betroffene fühlen sich von der Aufgabe, Ordnung in die eigene Wohnung zu bringen, maßlos überfordert. Dies kann damit verbunden sein, dass der Beginn der Unordnung mit einer “schlimmen Zeit” in Verbindung gebracht wird. Etwa mit einer körperlichen oder psychischen Erkrankung, dem Verlust eines geliebten Menschen oder anderen ungewollten Einschnitten im Lebenslauf.
Bei anderen Betroffenen ist allein die Erinnerung an das wiederholte Scheitern bei Aufräumversuchen, an die damit verbundenen Gefühle der Überforderung und der Ohnmacht, genug um vor einem neuen Anlauf zurückzuschrecken. In diesem Zusammenhang spielen strenge Erwartungen und hohe Ansprüche an sich selbst oft eine zentrale Rolle: Alles soll perfekt sein, und daraus, dass es nicht so ist, erwächst ein quälender, lähmender Selbstvorwurf. Dieses Muster verdeutlicht sich etwa in der Erwartung, dass eine über Jahren oder Jahrzehnte entstandene Unordnung in wenigen Tagen beseitigt werden soll. So werden selbst erste Erfolge, im Spiegel dieser überhöhten Erwartungen, als Scheitern wahrgenommen. Viele Betroffene verbinden solche Erfahrungen mit der eigenen Lebensgeschichte. Beispielsweise, wenn die innere Stimme, die stets mahnt, dass es nicht genug sei, an die Eltern erinnert.
Bei anderen Betroffenen steht hingegen die Schwierigkeit eine Ordnung aufrecht zu erhalten im Vordergrund: Es fällt ihnen schwer, den Alltag so zu organisieren, dass die Wohnung ordentlich bleiben kann. Die Organisation von Arbeitsabläufen im Alltag und vom Stauraum stehen hier im Vordergrund. Beispielsweise, wie die Wäsche so verstaut werden kann, dass das Herausholen eines Kleidungsstückes nicht dazu führt, dass alle anderen Kleidungsstücke in Unordnung geraten.
Manche Menschen haben auch nie gelernt, wie bestimmte Haushaltsarbeiten handwerklich durchgeführt werden. Etwa wie man das Geschirr abwäscht oder wie man den Boden zeitsparend und effektiv reinigen kann. Auch in diesem Bereich spielen überhöhte Ansprüche und Perfektionismus oft eine Rolle.
Antriebs- und Motivationsprobleme - Es fehlt die Energie oder der Wille/Entschluss etwas in der Wohnung zu verändern.
Antriebsprobleme liegen dann vor, wenn die Betroffenen etwas ändern wollen, ihren jedoch die innere Kraft dafür fehlt, Wenn sie also eine Vorstellung haben wie die Wohnung aussehen soll, daran jedoch nicht arbeiten können. Dies fängt mit dem Hinausschieben von geplanten Aufgaben an und kann sich soweit steigern, dass die Betroffenen es nicht schaffen, überhaupt aus dem Bett aufzustehen. Motivationsprobleme liegen dann vor, wenn der Zustand der Wohnung zwar als problematisch erkannt wird, jedoch trotzdem keine oder nur unklare wohnungsbezogene Ziele und Wünsche formuliert werden können. Wenn also keine Veränderung gewünscht wird, oder eine solche als prinzipiell sinnlos abgetan wird. Etwa wenn jemand sagt, dass es keinen Sinn macht, den Boden zu fegen, da er ja eh wieder dreckig werden wird.
Auswirkungen auf die Betroffenen
Der vorherige Abschnitt verdeutlicht, dass das Messiesyndrom viele Erscheinungsformen hat. Diese verschiedenen Problembereiche können voneinander unabhängig auftreten. In der Regel verstärken sie sich jedoch, oder bedingen sich sogar gegenseitig.
Es gibt durchaus Betroffene, die mit dem Status ihrer Wohnung zufrieden sind, keine Einschränkungen verspüren oder diese als den Preis, den sie für ihren Lebensstil zahlen, in Kauf nehmen. Dies ist als individuelle Lebensentscheidung zu akzeptieren. Unabhängig davon, ob die Betroffenen mit ihrer Situation zufrieden oder unzufrieden sind, ist die Stigmatisierung, der sie in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, ein großes Problem, welches erhebliches Leiden verursachen kann.
Eine stark gefüllte Wohnung kann nicht mehr uneingeschränkt für das genutzt werden, für was sie eigentlich gedacht ist. Dies kann zu Schwierigkeiten und Einschränkungen führen. Etwa beim Schlafen, Heizen oder Lüften, bei der Nahrungszubereitung und der Durchführung der Körperhygiene. Mit zunehmender Befüllung wird auch die Bewegung in der Wohnung immer mühseliger und langsamer. Unter Umständen sind Teile der Wohnung nicht mehr betretbar. Neben diesen unmittelbaren Folgen der eingeschränkten Nutzbarkeit der Wohnräume kommt es häufig auch zu Auswirkungen auf die Sicherheit der Wohnung, Schwierigkeiten beim Einhalten von Fristen (da wichtige Dokumente nicht gefunden werden), Konflikte mit Vermietern, Nachbarn, im Beruf, der Ausbildung oder der Familie. Auch Schädlinge und Schimmel können sich ausbreiten. Hinzu kommen mögliche psychische Beeinträchtigungen wie beispielsweise sozialer Rückzug, Scham, Selbstwertprobleme, Ängste, Schlafstörungen oder Ohnmachtsgefühle. Dies kann die Entwicklung psychischer Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen begünstigen.
Eine Messiesymptomatik kann umgekehrt auch als Folgeerscheinung aus anderen Krankheiten heraus entstehen. In der Fachliteratur werden hierbei Depression, Zwangserkrankungen, Manie, Suchterkrankungen, Demenz, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, ADHS und das Prader- Willi-Syndrom genannt.
Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass eine Messiesymptomatik keinesfalls zwangsläufig mit einer psychischen Erkrankung im Zusammenhang stehen muss.
Psychologische Erklärungsmodelle
Es gibt verschiedene psychologische Theorien zum Messiesyndrom. Diese sollen hier nur kurz angeschnitten werden. In der unten stehenden Literatur werden sie genauer ausgeführt.
Psychische Probleme haben stets individuelle Ursachen und innere Dynamiken. Psychologische Erklärungsmodelle können dabei helfen, diese zu verstehen, erklären sie jedoch niemals vollständig. Sie treffen auch nicht auf alle Betroffenen zu. Unterschiedliche Wege können zum selben Symptom führen, und die gleichen Lebenserfahrungen und Veranlagungen zu unterschiedlichen, oder eben auch keinen, Symptomen.
Die am weitesten verbreiteten Erklärungsmodelle betonen, dass sich im Messiesyndrom Elemente von Zwangsdynamiken und Verhaltenssüchten vermischen. Vereinfacht ausgedrückt sind Zwangserkrankungen davon geprägt, dass Menschen den Drang haben etwas bestimmtes zu tun oder zu denken, obwohl sie es eigentlich nicht wollen. Wenn sie sich dem Drang widersetzen entstehen ein großer innerer Druck und Angst, welche durch die Ausführung der Zwangshandlung abgemildert werden. Diese Handlung wird jedoch nicht lustvoll erlebt. Bei Verhaltenssüchten besteht ebenfalls ein innerer Drang eine Handlung immer wieder auszuführen, dies wird jedoch als lustvoll erlebt und nimmt immer mehr Raum im Leben der Person ein. Wie bei substanzgebundenen Süchten entsteht ein Gewöhnungseffekt, die „Dosis“ muss erhöht werden. Bei den meisten Betroffenen sind diese Elemente, das Zwanghafte und das Suchthafte, in verschieden Anteilen miteinander vermischt.
Sollte weder das eine noch das andere zutreffen, kann es sinnvoll sein, sich mit der Frage des Verhaltens und der Informationsverarbeitung zu beschäftigen. Hier bestehen oftmals Defizite im Bereich der Kategorisierung (beispielsweise ob ein Gegenstand noch gebraucht wird oder nicht), der Entscheidungsfindung (beispielsweise Perfektionismus, Angst vor Fehlern) und des Gedächtnisses (beispielsweise Zweifel, ohne Erinnerungsstütze auf Erinnerungen zugreifen zu können).
Schließlich kann auch die emotionale Bedeutung der gesammelten Gegenstände selbst entscheidend sein. In ihnen können vergangene Beziehungen symbolisch aufrechterhalten werden. Sie können auch selbst Ausdruck einer Beziehung zur Welt sein, etwa wenn sich Betroffene hinter Mauern aus Altpapier förmlich vor der Welt verschanzen und die Welt so buchstäblich draußen halten, weil für nichts anderes mehr Platz ist.
Berichte über Aufmerksamkeitsschwierigkeiten von Betroffenen haben zu Untersuchungen zum möglichen Zusammenhang zu Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung geführt.
Diesbezüglich gibt es jedoch noch keine Lehrmeinung.
Besonders erwähnenswert ist das Konzept des Messie-Formenkreis von Katharina Reboly. Hierbei betont sie die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der betroffenen, indem sie drei Hauptkategorien unterscheidet:
a) Das Messie-Verhalten als (Begleit-) Symptom und Ausprägungsform bei zugrunder liegende Psychopathologie
b) Das Messi-Syndrom bei Chronizität, mäßiger Ausprägung und Leidensdruck ausschließlich am Primärsymptom (Desorganisation in Raum, Zeit und sozialen Beziehungen)
c) Messiesein als Lebensstil bei klinische Unauffälligkeit, geringem bis gar keinen Leidensdruck, als Ausdruck des Zeitgeistes
Zitat aus Agdari-Moghadam, Pritz, Reboly & Vykoukal 2009, S.103
Diagnostik
Mit zunehmendem öffentlichem Bewusstsein nahm auch das Interesse der psychotherapeutischen Fachwelt an dem Thema zu. Die Begriffe „Messie“, oder „Messiesyndrom“, bezeichnen jedoch keine diagnostizierbaren psychische Störung oder Krankheit im engeren Sinn.
Standardisierte Diagnosen spielen in der zeitgenössischen Psychotherapie eine große Rolle. Sie basieren auf Verzeichnissen, in denen klar voneinander abgrenzbare diagnostische Einheiten definiert werden. Ob eine standardisierte Diagnose angewandt werden kann oder nicht, entscheidet sich dadurch, ob bestimmte, in dem Verzeichnis („Diagnosesystem“) festgelegte Voraussetzungen erfüllt werden. Am wichtigsten ist hierbei, ob bestimmte Symptome vorliegen oder nicht. In den beiden weltweit geläufigsten Diagnosesystemen wurden in den letzten Jahren standardisierte Diagnosen eingeführt, die für die meisten Betroffenen angewendet werden können.
In dem häufig in der Forschung verwendeten US-amerikanischen Diagnosesystem DSM-V wurde im Jahr 2013 die Diagnose „300.3 Hoarding Disorder“ („Hortungsstörung“) hinzugefügt.
Im von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Diagnosesystem ICD-11, welches auch in Deutschland verwendet wird, wurde 2022 die Diagnose „6B24 Pathologisches Horten“ hinzugefügt. In der vorläufigen Übersetzung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (eine endgültige Übersetzung liegt noch nicht vor) wird es wie folgt definiert:
„Pathologisches Horten ist durch eine Anhäufung von Besitztümern gekennzeichnet, die dazu führt, dass die Wohnräume so überfüllt sind, dass ihre Nutzung oder Sicherheit beeinträchtigt ist. Die Anhäufung ist sowohl auf wiederkehrende Triebe oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Anhäufung von Gegenständen als auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, sich von Gegenständen zu trennen, weil man glaubt, sie aufbewahren zu müssen, und weil man sich beim Wegwerfen von Gegenständen unwohl fühlt. Wenn die Wohnräume aufgeräumt sind, ist dies nur auf das Eingreifen Dritter (z. B. Familienmitglieder, Reinigungskräfte, Behörden) zurückzuführen. Die Belästigung kann passiv (z. B. Anhäufung von eingehenden Flugblättern oder Post) oder aktiv (z. B. übermäßiger Erwerb von kostenlosen, gekauften oder gestohlenen Gegenständen) sein. Die Symptome führen zu erheblichem Leidensdruck oder zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.”
Diese Diagnose ermöglicht es Menschen mit unterschiedlichen Ausprägungen des Messiesyndroms krankenkassenfinanzierte psychotherapeutische Hilfe zu beantragen.
Möglichkeiten der spezialisierten Hilfe
Bei der aufsuchenden Hilfe kommen spezialisierte Träger über einen längeren Zeitraum regelmäßig in die Wohnräume der Betroffenen um mit ihnen am Symptom zu arbeiten. Dies beinhaltet sowohl praktisches gemeinsames Aufräumen, als auch Arbeiten an Struktur und Organisation (beispielsweise Tagesabläufe, Putzroutinen, usw). Diese Form der Hilfe kann als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Eine Übernahme der Kosten durch das Amt für Eingliederungshilfe ist möglich. In dieser Form der Hilfe kann auch an den Ursachen oder sonstigen verwandten Themen und Beeinträchtigungen gearbeitet werden. Ihr Fokus liegt jedoch auf der praktischen Verbesserung der Wohnsituation. Wenn die Notwendigkeit oder der Wunsch an der Arbeit daran, oder beispielsweise an den emotionalen Auswirkungen oder den biographischen Hintergründen im Vordergrund steht, ist die Aufnahme einer Psychotherapie ratsam. Hierbei handelt es sich um eine Regelleistung der Krankenkassen. Psychotherapie findet in der Regel jedoch in einer Praxis statt, so dass keine direkte Arbeit in den Wohnräumen möglich ist.
In Selbsthilfegruppen schließen sich Betroffene zusammen, um sich, auf verschiedenen Ebenen, gegenseitig zu unterstützen. Es gibt Selbsthilfegruppen, die von Fachleuten angeleitet werden und andere, die komplett selbstorganisiert sind.
Im Rahmen von spezialisierten Coachingangeboten können bestimmte Techniken vermittelt werden, die manchen Betroffenen bei der Umsetzung der gewünschten Veränderung helfen. Hier besteht jedoch das Problem der begrenzten Dauer und der oft schwierigen Übertragung auf die eigene Lebenssituation.
Sollte jemand komplett neu anfangen wollen, oder bestimmte Bereiche, etwa ein bestimmtes Zimmer, komplett räumen möchte, ist auch das Engagement eines Entrümplungsdienstes möglich.
Prinzipiell sind alle Formen der Hilfe miteinander kombinierbar. So kann beispielsweise ohne Probleme eine Psychotherapie und eine aufsuchende Hilfe gleichzeitig durchgeführt werden.
Freunde oder Verwandte können ebenfalls wertvolle Hilfe leisten. Oftmals ist das Thema jedoch derart mit Scham oder anderen schwierigen Emotionen besetzt, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist.
Der erste Schritt zur Hilfe ist stets der schwerste. Ich rate allen Betroffenen, sich unverbindlich beraten zu lassen. Dies kann beispielsweise telefonisch bei FullHouse Ordnungshilfe, für die ich diesen Text geschrieben habe, geschehen. Ich schätze ihre Arbeit im Rahmen der aufsuchenden Hilfe sehr.
Max Geisthardt (Dipl.-Psych.), Januar 2023
Quellen, weiterführende Literatur und Weblinks
Agdari-Moghadam, N., Pritz, A., Reboly, K., & Vykoukal, E. (2009). Das Messie-Syndrom. E. V. A. Pritz (Ed.). Springer Vienna.
Rehberger, R. (2013). Messies-Sucht und Zwang (Leben Lernen, Bd. 206): Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung (Vol. 206). Klett-Cotta.
Tompkins, M. A. (2015). Clinician’s guide to severe hoarding. New York: Springer. doi, 10, 978-1.
Randy O. Frost; Tamara L. Hartl (1996). A cognitive-behavioral model of compulsive hoarding. , 34(4), 0–350. doi:10.1016/0005-7967(95)00071-2
Mueller, Astrid; de Zwaan, Martina (2010). Zwanghaftes Horten – Eine Literaturübersicht. Psychiatrische Praxis, 37(4), 167–174. doi:10.1055/s-0029-1223364
https://www.aerzteblatt.de/archiv/33777/Messie-Syndrom-Loecher-in-der-Seele-stopfen
https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f1991016628
In diesem taz Interview kommt Therapeutin und Messie-Expertin Veronika Schröter zu Wort und liefert ebenfalls einen guten Einblick in das Messie-Syndrom:
https://taz.de/Therapeutin-ueber-Messie-Syndrom/!5871155/